Das Projekt wurde 2018 mit dem Else Kröner-Fresenius-Preis für Medizinische Entwicklungszusammenarbeit ausgezeichnet.
Leben in Unsicherheit
Villa Zagala ist ein Armenviertel im Herzen von Buenos Aires - und ein gefährlicher Lebensraum: Drogenkriminalität und Schusswechsel gehören zum Alltag, die Polizei traut sich nicht in die Straßen, und Besuchende sollten nur morgens und in Begleitung von lokalen „Chiefs“ hier unterwegs sein. Viele Menschen können sich in Villa Zagala nicht einmal ein Haus oder eine Wohnung leisten und haben Unterschlupf in brachliegenden Fabrikgebäuden gefunden. Die meisten leben von Gelegenheitsjobs, wie Putzen oder Müllsammeln, oder einer geringen Sozialhilfe. Aber auch Krankenschwestern sind wegen ihres winzigen Lohns gezwungen, hier zu leben.
Viele Slum-Bewohnerinnen und -Bewohner haben keine Krankenversicherung. Gerade bei einer chronischen Erkrankung ist das ein Desaster: Das öffentliche Gesundheitssystem ist in Argentinien kostenlos, bietet aber keine ausreichende Versorgung mit Medikamenten. Und gerade in Elendsvierteln leiden viele Menschen an Diabetes, Bluthochdruck, zu hohen Cholesterin-Werten und Übergewicht.
Etwas zurückgeben ans Leben
Dr. Carina Vetye-Maler ist in Argentinien geboren und aufgewachsen, hat dort Pharmazie studiert und promoviert. Dann ging die Tochter deutsch-argentinischer Eltern nach Deutschland – bis für sie die Zeit für ihr zweites Land wiederkehrte.
Nach sechs Jahren in einem anderen Projekt kam Carina Vetye-Maler 2008 nach Villa Zagala und startete hier ein Programm für chronisch Kranke mit nicht übertragbaren Krankheiten. Es sichert Patientinnen und Patienten mit zu hohem Blutdruck, Blutzucker, Blutfetten oder stark erhöhtem Körpergewicht den Zugang zu medizinisch-pharmazeutischer Versorgung und Prävention.
Niedrigschwellige Hilfe
Das Projekt wurde an das städtische Gesundheitszentrum Nr. 16 angedockt. In Argentinien gibt es keine Hausarztversorgung, wie sie in Deutschland üblich ist, sondern von der Stadt, der Provinz oder dem Staat betriebene Gesundheitszentren, in denen Krankenschwestern sowie Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen niedrigschwellige Hilfe anbieten. Das Gesundheitszentrum Nr. 16 besteht seit rund 30 Jahren und ist für ein Einzugsgebiet von 25.000 bis 30.000 Menschen zuständig.
Städtische Gesundheitszentren haben nur sehr begrenzte Mittel: Offiziell arbeiten mindestens 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im „Centro de Salud No. 16“ - doch haben die meisten nur Stellen mit 8 bis 16 Stunden pro Woche.
Daher mangelt es auch an Medikamenten: Die Ausgabestelle im Gesundheitszentrum Nr. 16 kann aus eigener Kraft nur rund 30 Prozent der benötigten Arzneimittel für chronisch kranke Patientinnen und Patienten zur Verfügung stellen.
Das ist in Argentinien nicht selbstverständlich: 2008 hatten in der Provinz Buenos Aires nur 0,65% der Diabetiker Typ II und 0,08% der Hypertoniker über das öffentliche Gesundheitssystem Zugang zur benötigten Tagesdosis an Medikamenten.
Ein weiteres Problem: In den Gesundheitszentren in Argentinien gibt es keine Apothekerinnen und Apotheker, sagt Bibiana Pignolino, Allgemeinärztin und Direktorin des Gesundheitszentrums Nr. 16.
Zweibeinige Packungsbeilagen
An all diesen Punkten hat Apotheker ohne Grenzen Deutschland angesetzt: In dem Gesundheitszentrum wurde zusätzliches medizinisches Personal finanziert und eine AoG-Apotheke eingebaut, die in Koordination mit der lokalen Arzneimittelausgabe betrieben wird und sicherstellt, dass essentielle Medikamente immer vorhanden sind. In enger Zusammenarbeit mit dem Gesundheitszentrum und der dortigen Arzneimittelausgabe versorgt das Team, das aus fünf ehrenamtlichen Apothekerinnen und zwei Teilzeitkräften besteht, die Patientinnen und Patienten mit all jenen Medikamenten, die zu ihrer verschriebenen Dosis fehlen.
In den Jahren 2010 bis 2017 lag der Fehlbestand der städtischen Medikamentenausgabe bei durchschnittlich 67 Prozent. Diesen Fehlbestand hat das AoG-Projekt komplett ausgeglichen, so dass es seit der Kooperation keine sogenannte Out-Of Stock-Situation mehr gab. Dass ein chronisch Kranker dauerhaft und in der benötigten Dosis seine Medikamente bekommt, ist der erste Schritt auf dem Weg - im zweiten Schritt muss er sie auch korrekt einnehmen.
Dem Tablettenspender sei Dank
José Miguel Zelarrayan würde ohne das Projekt von Apotheker ohne Grenzen vermutlich nicht mehr leben. Der 64-Jährige hat Arthrose, Bluthochdruck und Diabetes – und kein Geld für die benötigten Medikamente. Jose Miguel ist nicht krankenversichert. Er lebt mit seiner Frau Mónica und einem schwer behinderten Enkel in der brachliegenden Fabrik „California“. Früher wurden hier Autoscheiben hergestellt, nach der Pleite in den 90er Jahren wurde das Gebäude besetzt.
José Miguel kommt aus der Provinz Tucumán, die für den Anbau von Zuckerrohr bekannt ist. Seine Eltern haben ihn verlassen, als er zwei Jahre alt war. Er kann nicht lesen, kann nicht schreiben und schlug sich sein Leben lang mit kleinen Jobs durch. „Ich habe immer gearbeitet“, sagt José Miguel. Bis vor einigen Jahren hat er mit seinem Handkarren Pappe gesammelt und sie verkauft. Heute lebt er von einer minimalen Sozialhilfe - weil er wegen seiner Erkrankungen nicht mehr arbeiten kann. Vor allem die Arthrose in den Hüften macht ihm zu schaffen, aber auch der Diabetes.
José Miguels Frau Mónica sorgt dafür, dass ihr Mann seine Tabletten bekommt und richtig einnimmt. Sie geht jede Woche einmal zur Apotheke und holt die benötigte Dosis ab.
Keine Oma, keine Schule
Das Programm für chronisch Kranke fokussiert auf eine Gruppe, die oft nicht genügend berücksichtig wird: Menschen um die 60, Omas und Opas. Sie sind für das soziale Gefüge in den Vierteln enorm wichtig sind, denn sie passen auf die Enkelkinder auf.
Natividad Batista hat 13 Enkel und 7 Urenkel. Alle Kinder sind oder waren regelmäßig bei ihr – ohne sie würden sich sicherlich nicht zur Schule gehen.
Ausgezeichnete Arbeit
Für das Programm wurden Apotheker ohne Grenzen Deutschland und Carina Vetye-Maler 2018 mit dem Else Kröner-Fresenius-Preis für Medizinische Entwicklungszusammenarbeit ausgezeichnet, der dieses Mal im Bereich nicht übertragbare Krankheiten vergeben wurde. Wichtige Punkte bei der Auswahl waren die enge Zusammenarbeit mit lokalen Behörden, die zehnjährige Beständigkeit und die Auslegung auf Nachhaltigkeit.
Pro Jahr werden 220 bis 250 Patientinnen und Patienten mit Hypertonie, Diabetes, Hypercholesterinämie und/oder Adipositas behandelt. „Rund 50 Prozent der Patientinnen und Patienten wurden so gut eingestellt, dass sie international gültige Zielwerte erreichen“, betont Carina Vetye-Maler. „Die Ergebnisse sind mit denen von Patientinnen und Patienten in Industrienationen vergleichbar – und das in einem argentinischen Slum.“
Bei weiteren 30 bis 35 Prozent der Patientinnen und Patienten in Villa Zagala konnte man sich den Zielwerten zumindest nähern.
Mit dem Preisgeld in Höhe von 100.000 Euro möchte Apotheker ohne Grenzen das Projekt die nächsten drei bis fünf Jahre stabilisieren. Es sollen weitere Ärztinnen und weitere Medikamente bezahlt werden. Damit alle bisherigen – und neue – Patientinnen und Patienten weiterhin umfassend versorgt werden können. Ihre Lebensqualität gesichert wird. Und ihre Lebenserwartung gesteigert wird.
Zukunftsprojekt Prävention
Zunehmend setzt das Team um Carina Vetye-Maler auf Prävention und klärt über die Langzeitfolgen des extrem hohen Zuckerkonsums auf: „Cola ist oft billiger als Wasser und nimmt den Kindern zudem den Hunger. Aber gerade die Softdrinks sorgen für Kariesbefall und wir sehen Zwölfjährige, die keine Backenzähne mehr haben.“
Das Projekt hat auch die Weitergabe von Erfahrungen im Blick: Dutzende Ärztinnen und Ärzte in der Weiterbildung (AiW), Apothekerinnen und Gesundheitsmitarbeiterinnen wurden im Rahmen des Projekts geschult. Argentinische Ärztinnen und Ärzte sowie Pharmaziestudentinnen und -studenten werden über die Ergebnisse des Programms informiert und das Gesundheitsministerium erhält Daten und Erfahrungswerte, um diese auf andere Gesundheitszentren anwenden zu können.
Ab 2020 ist die schrittweise Übergabe des Chronikerprogramms an die lokalen Partner geplant. Anträge für eine Digitalisierung laufen und die Regierung arbeitet daran, Gesundheitszentren zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen.